Die Sache mit den Botanicals

Vodka oder Gin?

Ohne Botanicals wäre Gin eigentlich Vodka – also keine erfrischenden G&Ts und keine Diskussionen darüber, was einen «richtigen Martini» ausmacht. Wenn wir über die Botanicals im Gin nachdenken, ist es verlockend, sich das Gewürzgestell im Supermakt vorzustellen. Dabei handelt es sich hier vielmehr um absolut frische Produkte wie Blüten, Beeren, Gewürze, Wurzeln oder Samen.

Genau wie die Trauben, die den Wein ausmachen, oder der Hopfen im Bier beginnen die Botanicals ihr Leben als frische, saisonale Zutaten. Und genau wie alle anderen Landwirtschaftsprodukte sind Botanicals delikat und den Einflüssen von Krankheiten und schlechten Wetterkonditionen unterworfen.

Die Gin-Destillateure investieren deshalb viele Ressourcen in die Kunst, die Qualität der Botanicals Jahr für Jahr konstant zu halten. Wie genau sie dies schaffen, ist eine ziemlich geheime Geschichte, bei der es um uralte Alchimie und eine Art und Weise des Sammelns geht, die sogar altgediente Michelin-Star-Köche neidisch werden lassen.

Wacholder ist nicht gleich Wacholder

Die Wacholderbeeren sind das wichtigste Botanical für den Gin überhaupt. Nicht nur, dass ihr Geschmack eigentlich synonym ist mit dem London Dry-style Gin, sondern sie sind auch die einzige von den internationalen Regulatorien verlangte obligatorische Gin-Zutat. Die «Beeren» sind eigentlich fleischige Zapfen, die an den «Juniperus Communis»-Büschen wachsen und Samen beinhalten. Sie ähneln Saftbeeren und sind deshalb bei Vögeln, die sie dann weiter transportieren, äusserst beliebt. Mittlerweile wachsen Wacholderbüsche auf der nördlichen Hemisphäre beinahe überall, von der Subarktis bis zu den Subtropen.

Aber lange nicht alle Wacholderbeeren sind gleich.

“Wenn man sanfte Kiefer- und Zitrus-Aromen erzielen will, muss man die Wacholderbeeren in der nördlichen Mittelmeerregion ernten», sagt Jared Brown, Chef-Destillateur der britischen Ginmarke Sipsmith. «Schottischer Wacholder schmeckt nach Moos, während Wacholder aus den Amerikanischen Rocky Mountains so süss ist, dass er nach Kaugummi schmeckt», erklärt Brown.

Brown, ein leidenschaftlicher Gärtner, bewirtschaftet ein Stück Land in den englischen Cotswolds, wo er seine eigenen Botanicals zu Forschungszwecken kultiviert, und sie auch teilweise für seine Kleinmengenabfüllung «Sipping Society» verwendet. Nachdem Brown merkte, dass er in England keine wirklich gute Wacholder-Qualität erzielen konnte, beschloss er, eine Ernte in den Hügeln der Südtoskana zu beobachten, um die Zutat besser zu verstehen. Diese Erfahrung brachte ihm ein noch viel umfassenderes Verständnis für die wappenartigen Maschinen, mit der die reifen Beeren von den Büschen geerntet werden, sowie den Sortier- und Trocknungsprozess, der die feinsten Beeren hervorbringt – reich an aromatischen  und geschmackvollen essentiellen Ölen.

«Das Erste, was mein Team tut, wenn ein Wacholdersack ankommt, ist, die Ärmel hochzukrempeln und die Unterarme hineinzutauchen. Wenn es sich leicht, trocken und warm anfühlt, handelt es sich um eine schlechte Qualität von Wacholderbeeren. Es sollte sich kalt, schwer und feucht anfühlen; das bedeutet, dass der Wacholder reich an Ölen ist.

Wacholderbeeren sind eine von 10 Botanicals im Sipsmith London Dry Gin, dessen Rezept auf jahrhundertealte Überlieferung zurückgeht. «Das Wissen über die Konservierungsmethode dieser Botanicals geht bis auf die alten arabischen Alchimisten zurück», sagt Brown, der auch ein Drinks Historiker ist.

Indem Sipsmith diese Techniken studiert und umsetzt, können die Zutaten stets frisch und saisongerecht bestellt und dann während des ganzen Jahres getrocknet und destilliert werden.

Inspiration stat Geschichte

Während Sipsmith sich an Tradition und Geschichte inspiriert, gibt es natürlich auf der anderen Seite auch Ginmarken, die sich für ihre Inspiration nicht an der Vergangenheit orientieren – so zum Beispiel Monkey 7. Wie bereits der Markenname besagt, werden hier mindestens 47 Botanicals für die Destillation verwendet. «So viele Ingredienzen harmonisch miteinander zu vereinen, ist wie die Komposition eines klassischen Musikstücks», sagt Gründer Alexander Stein.

Bei Monkey 47 liegt dem Grundrezept die Preiselbeere zugrunde, laut Stein eine äusserst vielseitige Zutate. «Sie ist sauer, bitter, süss, und fruchtig, und deshalb für unseren Gin absolut unverzichtbar». Vor der Destillation mazerieren die Preiselbeeren während einer Woche in neutralem, Molasse-basierten Alkohol, die restlichen, natürlich qualitativ herausragenden, Botanicals werden 36 Stunden vor der Destillation zugefügt. Für Stein ist genau dieser Prozess, ausschlaggebend  für die Qualität seines Gins.

Stein hat mit den meisten seiner Lieferanten seit Jahren ein enges Verhältnis. Aber trotz dieser guten Beziehungen machen ihm manchmal wettertechnische und landwirtschaftliche Bedenken und Ereignisse einen Strich durch die Rechnung, und die Qualität der einzelnen Ingredienzen entsprechen nicht seinen Standards. Dann, so Stein, destilliert er einfach gar nicht erst, wie das etwa zwei oder dreimal pro Jahr vorkommt.

Professioneller Sammler

«The Botanist» der Destillerie Bruichladdich auf der schottischen Insel Islay bringt es mit 31 Botanicals nicht auf ganz so viele wie sein deutscher Konkurrent. Dafür stammen 22 davon von der Insel selbst und werden dort von James Donaldson, dem Fulltime-Sammler der Marke, handgepflückt. Donaldson sei übrigens der einzige professionelle Botanist-Pflanzer und -Sammler der Welt, schreibt die Marke. Von Mitte März bis Ende September jeden Jahres durchstreift Donaldson mit seinem Elektromobil die gut 600m2 grosse Insel mit dem Ziel, jeweils genau die richtige Menge der 22 Botanicals auf seiner Liste zu pflücken, die unter anderem Gagelstrauch, Beifuss oder Acker-Kratzdistel umfassen.

«Jede Pflanze muss zum korrekten Zeitpunkt und in bestem Zustand gepflückt werden», sagt Donaldson, «und muss im Idealfall knochentrocken zur Destillerie kommen, was auf einer Insel, auf der es normalerweise 200 Tage im Jahr regnet, nicht ganz einfach ist».

Sein Botanical-Fund wird normalerweise in der Trockenanlage – ein paar Schuppen mit von ortsansässigen Schreinern gezimmerten Holzgestellen – zum Trocknen ausgelegt. Die Trockenzeit ist bei allen Botanicals unterschiedlich, dauert aber gemäss Donaldson bis zu 5 Stunden.

Donaldsons Arbeitsvolumen wird von der Unberechenbarkeit des Wetters und der Natur im Allgemeinen definiert –genau wie bei allen Naturprodukten, seien es Weine oder halt eben hochstehende Naturprodukte wie Gin.

So lasst uns diesem uralten, liebevollen und hochkomplexen Prozess beim Heben des Gin-Glases genügend Hochachtung zollen und darauf warten, alle unsere Sinne von diesen mystisch anmutenden Botanicals betören zu lassen…

Kommentare